Cem Özdemir wagt sich an die dicken Scheiben Wenn’s mit der Politik nicht mehr klappt, wartet der Glaser

Wenn Politiker einen Handwerksbetrieb besuchen, heißt es meist: Hände schütteln, in Kameras lächeln – und schnell wieder weg. Grünen-Bundesvorsitzender Cem Özdemir nahm sich dagegen einen ganzen Tag Zeit und packte bei der Glaserei Gastel selbst mit an.

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    © Gastel
    Beim Tausch der 180 Kilo-Scheibe packte Politprofi Cem Özdemir im Team der Glaserei Gastel richtig mit an.
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    Mit Gefühl setzten Handwerker und Praktikant die Scheibe in den Rahmen.
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    © Handwerkskammer Stuttgart
    Wolfgang Gastel (re.) zeigte Cem Özdemir in seiner Aidlinger Werkstatt einige Tricks aus dem Glaserhandwerk.
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    Bei der Fenstermontage stellte sich der Politiker laut Glasermeister Gastel geschickt an.

Özdemir hatte sich bei der Handwerkskammer (HWK) Stuttgart gemeldet und nach einem Praktikum im Handwerk mit Bezug zur energetischen Sanierung gefragt. Die HWK wandte sich daraufhin an Wolfgang Gastel in seiner Funktion als Kreishandwerksmeister für den Kreis Böblingen. "Ich habe ihnen vier Betriebe genannt und mich selbst als Notnagel angeboten." So kam es auch: Am Folgetag des ersten Praktikums bei einem Zimmerei-Betrieb parkte Özdemir seinen Dienstwagen um 7.30 Uhr auf dem Hof der Glaserei Gastel, zog die Sicherheitsschuhe an, streifte seine Schutzhandschuhe über und fuhr mit dem Glasermeister zu den vier Monteuren auf die erste Baustelle.

Vor dem Ungetüm nicht kapituliert

Im Zeichensaal einer Werkrealschule war eine Dreifach-Isolierglasscheibe zu Bruch gegangen. Gastel und seine Jungs hatten den Auftrag zum Austausch. Bei dieser Gelegenheit lernte der Politprofi auf die harte Tour, mit welch hohen Gewichten sich Glaser und Fensterbauer heute rumplagen müssen. Der Transporter brachte die 179,5 Kilogramm schwere Scheibe bis fast an den Fensterrahmen. Aber eben nur fast. Die verbliebenen 30 Meter führten unter einem Vorbau durch. Es blieb nur die schwere Handarbeit. "Ich wollte Özdemir demonstrieren, wie mühsam die letzten Meter von Hand sind", beschreibt der erfahrene Glasermeister seine Idee.

Der Praktikant begutachtete vor allem die Vakuumglassauger zunächst skeptisch: "Halten die wirklich das hohe Gewicht?" Nach einer Anleitung durch die Profis packte er zu und hievte das Ungetüm als Teil des Teams in den Falz. "Er hat sich richtig gut angestellt, zugepackt und als echter vierter Mann mitgearbeitet. Mein eigentlicher vierter Monteur hat die Fotos gemacht", sagt Gastel. Nach dem Scheibenwechsel nahm der Handwerker den Politiker mit zur Besichtigung einer Baustelle mit Wasserschaden. Gemeinsam stellten sie die Ursache fest, und der Unternehmer zeigte die Aufnahme der wichtigen Punkte für die Angebotserstellung sowie die rentable Preiskalkulation.

In der Pause aß Özdemir auf seinen Wunsch hin mit Familie Gastel zu Mittag. Nach der leiblichen Stärkung stellte er einige Fragen zu dem Verhältnis zwischen Planer, Bauherr sowie Handwerker. "Wir haben über bürokratische Probleme und die Detailaufgaben beim Einbau von Fenstern diskutiert. Für kritische Dinge wie das immer weniger tragfähige Mauerwerk oder die zunehmend komplizierte Abdichtung hatte Özdemir ein offenes Ohr und hörte aufmerksam zu", erzählt der Glaser. Über einige Zusammenhänge in der Praxis und wie die Gesetzgebung die Arbeit der Handwerker beeinflusst, sei sich der Politiker nicht im Klaren gewesen. "Aber er war offen für die Argumente und hat die Probleme erkannt", erklärt Gastel.

Neue Karriere in Aussicht?

Nach der Pause stand der Einbau von Fenstern in einem Neubau auf der Liste. Die ersten beiden Elemente stellte Gastel in die Laibung, setzte die Montageschrauben und installierte die Abdichtung. Özdemir reichte ihm die Werkzeuge und schaute sich die Kniffe ab. "Danach habe ich ihn aufgefordert, die Rollen zu tauschen. Er war zunächst überrascht, hat sich dann aber sehr geschickt angestellt", berichtet der Glasermeister. Also richtete der Politiker die Rahmen aus, bohrte, schraubte, schäumte, dichtete den Baukörperanschluss mit Bändern ab. Gastel stellte Özdemir eine zweite Karriere im Fensterbau in Aussicht: "Wenn’s mit der Politik mal nicht mehr klappen sollte, kann er bei mir anfangen."

Die Praxis kennen lernen

Gastel zieht eine positive Bilanz nach dem Tag mit dem bekannten Politiker: "Cem Özdemir hat sich viel Zeit genommen, wollte die Praxis des Handwerks erleben und hat Fragen gestellt. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er nur ein Pflichtprogramm abspult." Zudem hat der Besuch des prominenten Gastes Aufmerksamkeit erregt, die das Glaserhandwerk sowie den Betrieb des Fensterexperten in ein gutes Licht gerückt hat. "Das war schon eine gute Werbung für mein Unternehmen und unsere Branche. Viele Kunden haben mich auf Artikel in ihrer lokalen Zeitung angesprochen", erzählt Gastel.

Am meisten beeindruckt zeigte sich der Glaser von der Ansprache des Probemitarbeiters an sein Team: "Er sagte, es habe riesig Spaß gemacht, bei uns zu arbeiten. Trotz der schwierigen Arbeit hätten wir immer einen lockeren Spruch drauf und dadurch viel Spaß bei der Arbeit." Das sei beeindruckend. Özdemir formulierte als Erkenntnis nach dem Praxistag, dass die Politik nicht nur an Großkonzernen ausgerichtet sein sollte: "Wir müssen in Berlin viel mehr darauf achten, dass die Vorgaben von den vielen Mittelständlern problemloser umgesetzt werden können. Insbesondere dürfen die bürokratischen Aufgaben niemanden übermäßig in die Pflicht nehmen."

Einige Aufgaben sind aber noch zu erledigen

"Wir sind Handwerker und wollen händisch arbeiten. Es ist wichtig, deutlich zu machen, wie sehr uns die Bürokratie belastet", gab Gastel seinem Gast mit auf den Weg. Er habe ihm mehrfach deutlich gemacht, wo ein Betrieb mit 20 Mitarbeitern und mehr belastet ist und wie sich das erst in kleinen Unternehmen mit vier bis fünf Mann auswirkt. "Ich nenne mal nur den Chef, der als Meister morgens mit auf die Baustelle geht, dann die Akquise betreibt, Angebote schreibt und Bestellungen tätigt. Bis zur Statistik bleibt vieles nur an ihm hängen", beschreibt der Unternehmer seinen Alltag. Fällt der Chef aus, steht der Betrieb still. "Die Hilfe muss aus meiner Sicht also ganz dringend im endlich mal erlebten Bürokratieabbau liegen", redet der Glasermeister Klartext.