EuGH-Urteil Sind alle europäischen Normen bald kostenlos zugänglich?

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in einem Fall entschieden, dass harmonisierte technische Normen Teil des EU-Rechts sind und deshalb frei und kostenlos zugänglich sein müssen. Ein Urteil mit wahrscheinlich großer Tragweite.

EuGH Urteil
Das EuGH hat in einem Rechtsstreit entschieden, bei dem es um grundlegende Fragen des freien Zugangs zu Gesetzen und harmonisierten Normen ging. - © Zerbor stock.adobe.com

Geklagt hatten zwei gemeinnützige Organisationen, die das Ziel verfolgen, Gesetzeswerke für alle Bürger frei zugänglich zu machen. Dazu zählen auch harmonisierte Normen, also technische Spezifikationen, die von einer der drei europäischen Normungsorganisationen (CEN, CENELEC, ETSI), im Auftrag der EU-Kommission erstellt werden.

Im Rechtsstreit ging es exemplarisch um den Zugang zu auf Unionsebene harmonisierten technischen Normen im Bereich der Sicherheit von Spielzeugwaren. Die EU-Kommission verweigerte den Zugang im Januar 2019 mit der Begründung, dass harmonisierte Normen urheberrechtlich geschützt seien.

Das Urteil des EuGH: Öffentliches Interesse am freien Zugang

Nachdem das Gericht eine dagegen gerichtete Klage in erster Instanz abgewiesen hatte, hob nun die Große Kammer des EuGH das Urteil des Gerichts auf und entschied, dass die EU-Kommission den beantragten Zugang gewähren muss.

Der Gerichtshof weist in einer Pressemitteilung zum Urteil darauf hin, dass "das Unionsrecht jedem Unionsbürger und jeder natürlichen oder juristischen Person mit Wohnsitz oder Sitz in einem Mitgliedstaat den Zugang zu Dokumenten gewährleistet, u.a. zu denjenigen, die sich im Besitz der Europäischen Kommission befinden".

Unter Verweis u.a. auf die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des freien Zugangs zum Gesetz ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Bürger darauf angewiesen sein können, von harmonisierten technischen Normen Kenntnis zu nehmen, damit sie prüfen können, ob ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Dienstleistung tatsächlich die Anforderungen einer solchen Vorschrift erfüllt. Insoweit bestehe ein überwiegendes öffentliches Interesse am freien Zugang zu den harmonisierten Standards.

Kostenloser Zugang zu harmonisierten Normen

Die Kanzlei Morrison Foerster, die zusammen mit der Kanzlei FP Logue das Urteil für ihre Mandanten erstritten hat, begrüßt den Ausgang des Rechtsstreits und erwartet große Auswirkungen weit über den konkreten Streitfall hinaus: "Die EU-Kommission dürfte nun kostenlosen Zugang zu allen harmonisierten Normen gewähren müssen, da sie Teil des EU-Rechts sind. Dies wird eine vollständige Neuordnung des Europäischen Normungssystems erfordern. Die europäischen Normungsorganisationen, aber auch nationale Organisationen wie das DIN in Deutschland, werden von Unternehmen und Privatpersonen künftig daher nicht mehr verlangen können, harmonisierte Normen für viel Geld zu kaufen. Damit werden harmonisierte Normen als Teil des EU-Rechts endlich frei zugänglich sein."

Kritik am Urteil: Kommt System der Normung zum Erliegen?

Kritisch sieht das Urteil hingegen Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Klindt von der Kanzlei Noerr. Laut dem juristischen Online-Magazin LTO kritisiert er, dass das Urteil das gesamte europäische System der freiwilligen technischen Normung zur Disposition stelle. Für die Industrie stehe viel auf dem Spiel, denn es sei völlig offen, wie zukünftig neue technische Normen weiterentwickelt würden.

Hintergrund: Die Standards für die harmonisierten technischen Normen erarbeiten Experten aus Wirtschaft, Wissenschaft, öffentlicher Hand und Zivilgesellschaft, die wiederum von den nationalen Normungsorganisationen – in Deutschland etwa das DIN – entsendet werden. Diese Verbände finanzieren sich aus dem Verkauf der Normen an die entsprechenden Anwender. "So ist sichergestellt, dass Experten auf einem Gebiet Normen zum Beispiel mit Blick auf neue Technologien fortentwickeln, was dem Verbraucherschutz zugutekommt. Durch das neue EuGH-Urteil fällt diese Finanzierungsmöglichkeit weg. Kritiker wie Klindt befürchten, dass die Verbände deshalb ihre Arbeit einstellen und damit das gesamte System der europäischen Normsetzung zum Erliegen kommt", schreiben die Autoren bei LTO.