Ukraine-Krieg und die Folgen Sorge um stabile Erdgasversorgung – was sagt die Branche?

Seit Beginn des Ukraine-Kriegs fließt weniger russisches Erdgas durch die Pipelines nach Europa und Deutschland. Die Folgen für Endverbraucher und Industrie sind nicht abzusehen. Die Flachglasherstellung braucht Prozesswärme und nutzt dafür auch Erdgas. Was tut die Politik, was sagt die Branche? Ein Überblick.

Eine Komplettabschaltung der Erdgasversorgung würde in der Glasindustrie zu irreversiblen Anlagenschäden führen. - © Corona Borealis , stock.adobe.com

"AGC forscht kontinuierlich an der Dekarbonisierung und der Verringerung des Energieverbrauchs in seinen Produktionsprozessen und stellt energieeffiziente und wiederverwertbare Produkte her, die zur Umsetzung der Energiewende beitragen. Angesichts der aktuellen Energiekrise mit hohen Erdgas- und Strompreisen und mit Blick auf die Entwicklung im Herbst und Winter benötigt AGC die Unterstützung der Regierung, um eine kontinuierliche Energieversorgung zu gewährleisten und die Produktion aufrechtzuerhalten, um einen Beitrag zur kohlenstoffarmen Wirtschaft zu leisten", erklärt Niels Schreuder, Public Affairs & Communication Architectural Glass, AGC Glass Europe, gegenüber GFF. "Das Wichtigste für AGC ist, als kritischer Industriezweig für die kontinuierliche Energieversorgung (Erdgas und Strom) im Falle von Unterbrechungen priorisiert zu werden."

Glasindustrie auf Erdgas angewiesen

Laut dem Bundesverband Glasindustrie (BV Glas) sei eine Komplettabschaltung der Erdgas-Versorgung in der Glasindustrie nicht möglich, da dies bei der Glasindustrie nicht nur zu einem Produktionsausfall, sondern auch zu irreversiblen Anlagenschäden führen würde. Ein Wiederaufbau würde mehrere Monate beziehungsweise Jahre dauern. Laut Einschätzungen des BV Glas (Stand April 2022) benötigt die Glasindustrie anlagenabhängig mindestens eine Erdgasmenge von 70 Prozent des Normalbetriebes, um die Glaswannen von Schäden zu schützen und die Versorgungssicherheit mittel- bis langfristig gewährleisten zu können.

Erdgas ist der wichtigste Energieträger in der Industrie. Der Anteil lag nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Jahr 2020 bei 31,2 Prozent und 324,6 Milliarden Kilowattstunden (kWh). Auf die Produktion von Flachglas zum Beispiel für Fenster entfielen in Deutschland im gleichen Jahr 4,8 Terawattstunden (TWh), so der Bundesverband Glasindustrie (BV Glas).

aus: Deutsche Handwerks Zeitung – Glasöfen: Einmal aus ist alles vorbei 

Notfallplan der Bundesregierung

Der Notfallplan Erdgas der deutschen Bundesregierung basiert auf der sogenannten europäischen SoS-Verordnung und beruht auf drei Stufen, die durch den Staat ausgerufen werden:

  • 1. Frühwarnstufe: In der ersten Stufe tritt ein Krisenteam beim Bundeswirtschaftsministerium zusammen, das aus Behörden und den Energieversorgern besteht. Die Gasversorger und die Betreiber der Erdgasleitungen werden etwa verpflichtet, regelmäßig die Lage für die Bundesregierung einzuschätzen. Noch greift der Staat aber nicht ein. Vielmehr ergreifen Erdgashändler und -lieferanten, Fernleitungs- und Verteilnetzbetreiber marktbasierte Maßnahmen, um die Erdgasversorgung aufrechtzuerhalten. Dazu gehören beispielsweise die Nutzung von Flexibilitäten auf der Beschaffungsseite, der Rückgriff auf Gasspeicher, die Optimierung von Lastflüssen oder die Anforderung externer Regelenergie, also Energie, um Schwankungen der Lastflüsse auszugleichen.
  • 2. Alarmstufe: In der sogenannten Alarmstufe kümmern sich die Marktakteure primär in Eigenregie um eine Entspannung der Lage. Auch hier ist es möglich den Marktakteuren möglich, die in Stufe 1 genannten Maßnahmen zu ergreifen. Dazu gehören wiederum beispielsweise die Nutzung von Flexibilitäten auf der Beschaffungsseite, der Rückgriff auf Erdgasspeicher, die Optimierung von Lastflüssen oder die Anforderung externer Regelenergie. Um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, kann die Bundesregierung zusätzlich unterstützend tätig werden, etwa indem sie Unternehmen der Gasversorgungskette hilft, bei starken Preisanstiegen zahlungsfähig zu bleiben oder indem sie Maßnahmen, die im Energiesicherungsgesetz festgelegt sind, ergreift.
  • 3. Notfallstufe: Wenn die Maßnahmen der Frühwarn- oder der Alarmstufe nicht ausreichen oder eine dauerhafte Verschlechterung der Versorgungssituation eintritt, kann die Bundesregierung per Verordnung die Notfallstufe ausrufen. In diesem Fall liegt eine außergewöhnlich hohe Nachfrage nach Gas, eine erhebliche Störung der Gasversorgung oder eine andere erhebliche Verschlechterung der Versorgungslage, vor. Mit diesem Schritt kann die Bundesregierung im Rahmen des Energiesicherungsgesetz schnell umfangreiche Verordnungen zum Einsatz, zur Verteilung, zum Transport und zur Einsparung von Energie erlassen. Zudem lässt sich die Bundesnetzagentur zum Bundeslastverteiler einsetzen, wenn die Gasmärkte nicht mehr funktionieren. Der Bundesnetzagentur obliegt dann in enger Abstimmung mit den Netzbetreibern die Verteilung von Gas. Dabei sind bestimmte Verbrauchergruppen gesetzlich besonders geschützt, d.h. diese sind möglichst bis zuletzt mit Gas zu versorgen. Zu diesen geschützten Verbrauchern gehören Haushalte, soziale Einrichtungen wie etwa Krankenhäuser, und Gaskraftwerke, die zugleich auch der Wärmeversorgung von Haushalten dienen.

Neben der Notfallverordnung hat Bundesminister Habeck erste Maßnahmen vorgelegt um Gas einzusparen. So soll beispielsweise weniger Gas zur Stromproduktion genutzt und stattdessen wieder mehr Kohlekraftwerke eingesetzt werden. Dazu wurde ein Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetz entworfen, dem am 7. Juli 2022 mit Änderungen zugestimmt wurde und am 12. Juli in Kraft getreten ist.

Pläne für Klimaneutralität vorgestellt

Unabhängig von der Ukraine-Krise und deren Folgen für die Versorgungssicherheit gehen die die Bemühungen der Branche weiter, die CO2-Bilanz der industriellen Prozesse zu erfassen und zu optimieren.

Im Juli stelle der BV Glas auf einem parlamentarischen Abend eine CO2-Roadmap vor, mit der langfristig eine Klimaneutralität erreicht werden soll. Das Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung (IER) der Universität Stuttgart präsentierte drei Szenarien für eine klimaneutrale Glasindustrie bis 2045.

Die konventionellen Schmelzwannen sollen durch vollelektrische oder hybride Technologien ersetzt werden. Diese seien jedoch noch nicht marktreif verfügbar, heißt es. "Der zügige Ausbau der Strom- und Wasserstoffnetze ist eine Schlüsselaufgabe, damit die Dekarbonisierung der Glasindustrie gelingen kann. Allein durch die Umstellung der konventionellen Schmelzwannen auf voll- bzw. teilelektrischen Betrieb würde der Strombedarf um den Faktor 5 auf 37 PJ pro Jahr steigen", betonte Matthias Leisin vom IER.

Bislang keine Lösung für prozessbedingte Emissionen

Eine Frage sei nach wie vor offen: Während sich die energiebedingten Emissionen durch den Umstieg auf alternative Energieträger auf null senken lassen, gibt es noch keine Lösung für die prozessbedingten Emissionen, die direkt aus den Rohstoffen resultieren.

Hier ist bislang nur das Carbon Capture and Storage-Verfahren (CCS/CCU) verfügbar, bei dem CO2 abgeschieden und gelagert oder weiterverwendet wird.

Die Aufrüstung auf die Klimaneutralen Schmelzwannen koste die Branche überdies zirka 4,5 Milliarden Euro – eine Summe, die allein nicht zu stemmen sei. "Wir brauchen ausreichend grünen Strom, einen Ausbau der Infrastruktur und endlich einen wettbewerbsfähigen Industriestrompreis! Außerdem sollten die Förderungen für alternative Technologien auch die Mehrkosten für den Betrieb abdecken", sagt BV-Glas-Präsident Frank Heinricht. Denn allein die Energiekosten pro Tonne Glas würden durch den Einsatz von klimaneutralen Technologien um durchschnittlich 150 Prozent steigen.

Glaswannen können nicht ausgeschaltet werden

Eine Glaswanne wird unter normalen Umständen bis zu 20 Jahre lang kontinuierlich betrieben. Ein Abstellen des Feuers der Schmelzwanne ist nicht möglich, da dies einen vollständigen Zusammenbruch der feuerfesten Materialien aufgrund einer zu schnellen thermischen Kontraktion und ein anschließendes Erstarren des flüssigen Glases im Inneren der Schmelzwanne zur Folge hätte. Dies birgt außerdem ernsthafte Risiken für das Betriebspersonal durch auslaufendes, flüssiges Glas (1500°C). Es entsteht eine Brand- und Explosionsgefahr im Glaswerk.

Eine Wiederinbetriebnahme einer zerstörten Glaswanne wäre ohne einen kompletten Neuaufbau nicht möglich. Dies könnte, je nach Art und Wannengröße aufgrund der langen Beschaffungszeiten der speziellen Feuerfestmaterialien, dem Planungsaufwand und der ggf. erforderlichen Genehmigungsverfahren, bis zu zwei Jahren dauern und bis zu 50 Mio. Euro kosten.

Ein derart katastrophaler Schaden an der Wanne wäre in den meisten Fällen nicht durch eine Versicherung gedeckt und würde die Existenz der Unternehmen massiv bedrohen. Dadurch besteht ein erhebliches Risiko, dass Glaswannen nicht wiederaufgebaut werden können. Der Kaskadeneffekt würde unmittelbar dazu führen, dass in den Bereichen der Lebensmittel-, Getränke-, Pharma- und Medizinindustrie sowie der Automobil- und Bauindustrie die Lieferketten unmittelbar und auf längere Zeit unterbrochen werden.

Eine vergleichbare Situation besteht bei der Herstellung von hochreinem synthetischem Quarzglas, welches u.a. essenziell für die Produktion von Halbleitern/Computerchips und Telekommunikations-Glasfasern ist. Auch hier wird im Produktionsprozess kontinuierlich Erdgas sowie aus Erdgas gewonnener Wasserstoff benötigt. Produktionsausfälle wirken daher unmittelbar auf die nachgelagerte High-Tech-Industrie. Daher ist die Glasindustrie auch hier auf eine kontinuierliche Versorgung mit Erdgas angewiesen.

Die Unternehmen der Glasindustrie haben in den letzten Jahren den Einsatz von schwerem Heizöl aus Umweltschutzgründen ständig reduziert. Der Einsatz von Heizöl EL spielt praktisch keine Rolle mehr, im Jahr 2020 gab es nur noch sechs Einsatzfälle von Heizöl (HS). Das entspricht einem Anteil von lediglich 2,2 Prozent am Gesamtenergieverbrauch der Glasindustrie und dieser ist zwischenzeitlich weiter reduziert worden. Die Möglichkeit, Erdgas durch Heizöl (HS und HEL) zu ersetzen, ist in der Glasindustrie daher meist nicht gegeben.

Die Glaswannen werden teilweise mit elektrischer Zusatzbeheizung am Wannenboden betrieben (sogenanntes Boosting). Das elektrische Boosting kann die Glasschmelzöfen jedoch nicht allein auf Temperatur halten. Deshalb ist auch im Notbetrieb immer ein Brenngas notwendig. Die Unternehmen haben im Allgemeinen keine alternativen Brennstoffe als Reserve gelagert und eine Umstellung des Prozesses auf andere Energieträger ist nicht möglich bzw. würde technisch mehrere Monate Vorbereitungszeit benötigen. Die erforderlichen Genehmigungsverfahren für eine solche Umstellung der Brennstoffe würden entsprechend länger dauern.

Durch die Novellierung des Energiesicherungsgesetzes (EnSIG) ist in Notfällen (Gas-Stopp) der Umstieg auf alternative Brennstoffe wie Propangas, Heizöl usw. für eine begrenzte Zeit erlaubt. Diese Möglichkeit wird auch von Unternehmen der Glasindustrie geprüft. Es muss aber betont werden, dass dies auch vom Gesetz her nur in Notfällen und nur für einen begrenzten Zeitraum möglich ist und dementsprechend kein Substitutionspotenzial für Erdgas darstellt.

Auszug aus dem Statement zur Versorgungssicherheit mit Erdgas vom Bundesverband Glasindustrie