ESG vs. ESG-H Interview mit Prof. Dr.-Ing. Jens Schneider

Das Thema köchelt seit Monaten – und glaubt man Prof. Dr.-Ing. Jens Schneider, so ist die Branche daran nicht unbeteiligt. Der Wissenschaftler sprach mit GFF über Protokolle und Panikmache.

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GFF: Herr Prof. Dr.-Ing. Schneider, gibt es 100- prozentige Sicherheit im Bauwesen?
Schneider: Nein. Es gibt Versagens-, für Glas Bruchwahrscheinlichkeiten. Die DIN 1055- 100 „Grundlagen der Tragwerksplanung, Sicherheitskonzept und Bemessungsregeln“ differenziert zwischen Tragfähigkeit mit der anzustrebenden Versagenswahrscheinlichkeit von 1:1.000.000 pro Bauteil und Jahr sowie Gebrauchstauglichkeit mit dem Wert von 1:1.000 pro Jahr. Über Anforderungen an ein Bauteil entscheidet die Anwendung. Bricht im Café eine Kuchenvitrine aus Glas, bedeutet das ja keine Gefahr für Leib und Leben.

GFF: Anders ist die Situation in der Fassade.
Schneider: Als sicherheitsrelevante Anwendung verlangt der Fassadenbau für den Gebrauch von ESG den Heißlagerungs-/Heat- Soak-Test (HST). Anders ist z.B. in punktgehaltenen Fassaden Einscheibensicherheitsglas gar nicht mehr bauaufsichtlich zulässig.

GFF: Sofern es sich um Einfachglas handelt.
Schneider: Ja. Bei VSG aus zwei ESG-Scheiben ist die Versagenswahrscheinlichkeit des Verbunds, d.h. dass beide Scheiben infolge von Nickelsulfideinschlüssen versagen, hinreichend klein. Dazu hat VSG aus ESG in der Fassade eine gewisse Resttragfähigkeit nach dem Bruch beider Scheiben. Mit Blick auf aktuelle Gerichtsurteile und Diskussionen empfehle ich ausführenden Firmen aber, den Auftraggeber darauf hinzuweisen, dass es eine Bruchwahrscheinlichkeit für nicht heißgelagerte ESG-Scheiben gibt, die bei 1:1.000 bis 1:10.000 pro Quadratmeter und Jahr liegt. Führt man den HST gemäß Bauregelliste über vier Stunden durch, liegt nach unseren Berechnungen die Versagenswahrscheinlichkeit unter den Vorgaben der DIN 1055-100.

GFF: Gibt es für den Metallbauer eine Möglichkeit, die Einschlüsse im Glas zu erkennen?
Schneider: Dazu sind sie zu klein. Nickelsulfideinschlüsse, zu denen es bei der Floatherstellung kommen kann, sind zwischen 0,05 und 0,3 bis 0,5 Millimeter groß. Sie werden durch das thermische Vorspannen zunächst wieder in eine Hochtemperaturmodifikation umgewandelt, die sich später bei Raumtemperatur langsam in die Tieftemperaturmodifikation umwandelt, was mit einer Volumenvergrößerung verbunden ist. Da gibt es bisher keine zuverlässigen Detektionsmöglichkeiten. Anders sieht es mit Hinweisen auf den korrekten HST aus. Dazu fällt mir ein bei Saint-Gobain verwendeter, zunächst blauer Punkt im ESG-Stempel ein, der sich bräunlich/ beige färbt, wenn das Glas die vorgeschriebene Mindesttemperatur von 280 Grad Celsius erreicht und vier Stunden hält. Auf der Messe habe ich ein Verfahren gesehen, bei dem mit Nanotechnologie geprüft wird, ob die Scheibe wenigstens eine Stunde auf mehr als 260 Grad Celsius erhitzt wurde.

GFF: Auch wenn das für den ordnungsgemäß vorgenommenen Test noch lange nicht reicht.
Schneider: Das ist richtig, aber es bleibt mit den vorgeschriebenen Ofenprotokollen ein Indikator. Laut Bauregelliste sollen vier Stunden Temperaturen zwischen 280 und 320 Grad Celsius erzeugt werden, die bei einem Nickelsulfideinschluss dazu führen, dass es infolge der bei den Temperaturen beschleunigten Umwandlung des Einschlusses zum Bruch kommt. Ich persönlich würde die Vorgaben gerne dahin gehend erweitern, dass außer der Halte- die Aufheizzeit erfasst wird. Das wäre logisch, da es einen Unterschied für die Umwandlung macht, ob die Temperatur langsam oder schnell hochgefahren wird.

GFF: Angesichts der sicher auf Nickelsulfideinschlüsse zurückgeführten Schäden und der von Ihnen definierten Schadenshäufigkeit erstaunt die Aufgeregtheit dieser Diskussion. Schneider: Zum einen hat es schwarze Schafe gegeben. Da tauchten Protokolle von angeblichen Heat-Soak-Tests auf, die in offensichtlicher Häufung vom gleichen Tag datierten. Natürlich werden, kommt es da zum Schaden, Juristen hellhörig, zumal statistische Wahrscheinlichkeitsrechnungen nicht zu deren Berufsbild gehören. So gesehen kann sich die Branche nicht ganz von der Mitverantwortung freisprechen. Wer sich wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigt, kann froh sein, dass Dr. Andreas Kasper von Saint-Gobain solch umfassende Vorarbeit geleistet hat. Denn es ist schwierig, aus der Glasindustrie ausreichend und verlässliches Datenmaterial zu Tests und aufgetretenen Brüchen zu bekommen. Hier hoffe ich auf unsere mit dem BF initiierte Umfrage. Gutachter, die bei jedem Schmetterlingsbruch auf Nickelsulfideinschluss als Ursache verweisen, ohne den Einschluss zu identifizieren und eine chemische Analyse zu machen, haben von Panik gekennzeichnete Diskussionsbeiträge hervorgerufen. Brechendes Glas ist aber auch bei Journalisten immer wieder für spektakuläre Überschriften gut.

GFF: Was spricht überhaupt gegen den HST? Schneider: Er kostet Zeit und Geld. Das kann sich bei Auftragsspitzen sowie Materialengpässen auf die Lieferfähigkeit auswirken. Aber der Test ist unverzichtbar für die sichere Anwendung von ESG in der Fassade.

Zur Person: Prof. Dr.-Ing. Jens Schneider, TU Darmstadt
Forschungsthemen: konstruktiver Glas- und Fassadenbau, Fügetechniken im Glasbau, Einsatz von Glas in der Solartechnik, Optimierung von Parabolspiegeln für solarthermische Kraftwerke, tragende Bauteile aus transparenten Kunststoffen.
Position: seit April 2009 W3-Professur Statik am Institut für Werkstoffe und Mechanik im Bauwesen, Fachbereich Bauingenieurwesen und Geodäsie der TU Darmstadt.