Die Schollglas-Story: Günter Weidemann (80) Der Junge kam nie wieder, nie wieder nach Haus

Als der Hamburger Günter Weidemann in den späten Sechzigerjahren die Hanse verließ, um in Hannover sein Glück zu machen, da fiel ihm dieser Schritt nicht leicht. 45 Jahre später blickt der Unternehmer auf sein Leben zurück, das die Geschichte dieser Branche erzählt. GFF hörte zu.

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    Wie präsent die Glasbranche bei der Gala in Hannover war, sagt viel über die Anerkennung für die Lebensleistung des Schollglas-Gründers aus.
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    Dem GFF-Reporter hatte Günter Weidemann bereits am Rande des Glaskongresses im April in Weimar Rede und Antwort gestanden.

Die Wehmut des Alters verstärkt noch das Tiefgründige in den Augen Günter Weidemanns, das das unweit seiner norddeutschen Heimat dahinfließende Meer erahnen lässt. Er sagt: „Ich war ein mutiger Junge.“ Bei diesen Worten tritt ein Ausdruck der Entschlossenheit hinzu, wie er sie brauchte, als er sich entscheidet, in Geschäftsbeziehungen mit der DDR einzutreten. Der Reihe nach: Die Gründung von Schollglas 1969 fällt in eine Zeit, in der die deutsche Glasbranche im Umbruch ist. Hatte bisher der Glaser die auf die Baustelle gelieferten Fenster vor Ort verglast, so hält das Angebot jetzt, insbesondere durch die Explosion des sozialen Wohnungsbaus, nicht länger mit der Nachfrage stand. Fensterfabriken gründen sich, der Dreiklang Glasindustrie, Handel, Glaser (Handwerk) verliert seine Bedeutung als Leitmotiv der Branche. Als Weidemann, ohne Lager und mit wenig Geld, anfängt, das Isolierglas Thermopane („Der Mercedes unter den Gläsern“) als Streckengeschäft an besagte Fabriken zu liefern, wird er zunächst als Rucksack-Händler verspottet. Nicht sehr lange. Denn dann merken auch die Letzten, dass das Geschäft für die sog. Fertigfenster an ihnen vorbeigegangen ist. Gleichzeitig erkennt Mr. Schollglas den ebenfalls zu dieser Zeit sprunghaft ansteigenden Bedarf in der Fertighausindustrie, in der er binnen kürzester Zeit einen Marktanteil von 70 (!) Prozent hat. Dazu kommen das Geschäft mit Betonfenstern aus Drahtglas, das sich sechs, sieben Hersteller teilen – alle beliefert Günter Weidemann –, und Glas für Gewächshäuser.

Doch der Grandseigneur, damals vor allem ein „mutiger Junge“, begnügt sich damit nicht. Offenbar sucht er bewusst die Herausforderung, denn alleine das Passieren der innerdeutschen Grenze war bekanntlich nichts für schwache Nerven.

Als der Eiserne Vorhang fiel ...

Als der frischgebackene Unternehmer nach zwei fruchtlosen Versuchen in Ostdeutschland gefragt wird, ob er binnen zwei Wochen eine Lkw-Ladung Kristallspiegelglas besorgen könne – in AV-Qualität, wie sie Spiegel- und Automobilindustrie damals benötigten –, bejaht er sofort. Das war wirklich mutig, denn die Lieferzeit für den, damals mit Maschinenglas konkurrierenden, knappen Rohstoff betrug üblicherweise das Vierfache, acht Wochen. Die vermeintlichen Auftraggeber weisen Weidemann zu allem Überfluss darauf hin, dass sie nichts abnehmen, wenn das Glas auch nur einen Tag später einträfe.

„Als ich am Flughafen in Tempelhof gelandet war“, erinnert sich der Pionier und blickt wach über seine runde Brille, „habe ich sofort meine Vertrauensleute bei der Germania in Köln-Porz angerufen und denen gesagt, dass ich noch am gleichen Tag zu einem dringenden Gespräch kommen würde.“ Trotz eindeutiger Reaktion („Du spinnst ja!“), als er sein Begehren kundtut, helfen einige gemeinsam geleerte Gläser Kölsch – und man ist im Geschäft, um das Unmögliche zu versuchen.

Als schließlich zwölf Tage später der Lkw mit dem Kristallspiegelglas in Ostdeutschland ablädt, „haben die mich angeguckt wie ein Weltwunder“. So gesehen, weil sich Weidemann mit dieser halsbrecherischen Aktion eine starke Position im SED-Staat erarbeitet hatte, ist es verständlich, wenn er sagt: „Als der Eiserne Vorhang fiel, stand ich erst mal vor den Scherben.“

Doch schnell besinnt sich der „mutige Junge“ wieder seines Elans und ist heute neben dem Stammsitz in Barsinghausen und Niederlassungen in Polen, Dänemark und Nürnberg insbesondere in den Bundesländern stark vertreten, die 1989 zum alten Bundesgebiet hinzugekommen waren. Dazu zählt mit Lommatzsch sogar ein ehemaliger Treuhand-Standort, in dem Glas für Autospiegel produziert wurde; als Interessent Pilkington wegen der völlig veralteten Maschinen nach der Wende sein Übernahmeangebot zurückzieht, lässt sich Weidemann überreden und rettet so 200 Arbeitsplätze.

„Ein Geschenk an die Mitarbeiter“

Dass er im Mai 2014, kurz nach dem
80. Geburtstag und viereinhalb Jahrzehnte nach Beginn seines Unternehmerabenteuers, noch vor der Gala im Hannoverschen Kuppelsaal 700 Gäste, Mitarbeiter und ihre Angehörigen, zur gemeinsamen Feierstunde lädt, verfestigt das gewonnene Bild. In einer Stiftung hat der Entrepreneur die Basis für die zukünftige Stabilität und Kontinuität der Schollglas Gruppe gelegt. Die Beschäftigten sprechen bei der offiziellen Festveranstaltung an der Leine von „einem Geschenk an die Mitarbeiter“. Wie dem auch sei: Nach dem Erfolg als blutjunger Geschäftsführer von Glasfischer blieb der Hamburger Junge Niedersachsen treu und baute von dort Aktivitäten auf, mit denen die Gruppe heute 230 Millionen Euro umsetzt. Vielleicht noch mehr mit seiner persönlichen Verbindlichkeit hat der Hanseat unserer Branche seinen Stempel aufgedrückt: Um deren Schicksal muss man keine Sorge haben, solange sich Unternehmer vom Schlag eines Günter Weidemann finden.