GFF diskutiert am 23. Juli 2019, ift Rosenheim Überrollbarkeit vs. Nullschwelle – ein Paradigmenwechsel?

Zwei Vertreter der Fensterbau-Praxis, Alumat mit seinem Vertriebspartner für Österreich und die Schweiz, eine spezialisierte Agentur für barrierefreies Bauen und Vertreter des ift um Prof. Ulrich Sieberath diskutierten mit GFF zu dem möglichen Paradigmenwechsel durch die Überrollbarkeit.

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    Kornelia Grundmann (Agentur gabana) ist Architektin und berät in Bauvorhaben zu schwellenlosen Lösungen. In der Runde sagt sie: „Die Bewohner tun mir oft leid.“
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    Martin Werner (li.), Fensterbauexperte von Huber&Sohn, sowie Prof. Ulrich Sieberath mit GFF-Redakteur Matthias Metzger – auf www.gff-magazin.de finden Sie unser Video.
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    In Rosenheim diskutierten auf GFF-Initiative Schreinermeister Hubert Luidl, Abteilungsleiter Fensterbau Martin Werner von Huber&Sohn, Ferdinand Schusser von Alumat-Vertriebspartner Schusser+Schmid, Kornelia Grundmann von der Agentur gabana, Claudia Rager-Frey und Christian Rager (Alumat), Moderator Reinhold Kober, Prof. Ulrich Sieberath, Knut Junge und Sandra Heinrichsberger (v.li.n.re.; alle vom ift).
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    Martin Werner, Huber&Sohn: „Als Fensterbauer brauchen wir Alternativen bei diesem Thema.“
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    Prof. Ulrich Sieberath (re.): „Im Neubau ist die Nullschwelle ohne Wenn und Aber gesetzt.“
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    Knut Junge: „Eine zwei Zentimeter hohe Schwelle hat nichts mit Barrierefreiheit zu tun.“
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    Christian Rager bedauert, dass das Forschungsprojekt ohne Alumat stattfand.
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    Hubert Luidl: „Wir schlagen oft vor, zwei der fünf Terrassentüren schwellenlos auszuführen.“
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    Kornelia Grundmann (2.v.re.): „Manche Betriebe plädieren aus Unsicherheit für eine Schwelle.“
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    Ferdinand Schusser: „Mit dem Thema Überrollbarkeit machen wir wieder ein neues Fass auf.“

Plant, wer nach der DIN 18040 baut, am „eigentlichen Bedarf der späteren Nutzergruppe“ vorbei? In der Einleitung des Forschungsberichts „Bewertung der Barrierefreiheit von Bauelementen am Anwendungsbeispiel Fenster und Türen“, gefördert von der Forschungsinitiative Zukunft Bau und elf Industriepartnern, heißt es: „Zielsetzung des Forschungsvorhabens ist es, barrierefreie Anforderungsprofile für unterschiedliche Nutzergruppen zu definieren. Dazu sind Konzepte zu entwickeln, mit denen eine praxisnahe Bewertung der Barrierefreiheit von Bauelementen ermöglicht wird.“ Laut ift gibt es vielfältige Erkenntnisse zum tatsächlichen Bedarf der Betroffenen, Empfehlungen für Öffnungsarten sowie Kenngrößen zur Bewertung der Bedienkräfte und eben der Eignung von Türschwellen. Eine ist die Überrollbarkeit, der Begriff „Nullschwelle“ sei zu schwammig, sagt das ift und verweist auf niveaugleiche Schwellen mit Vertiefungen und höhere Rollwiderstände durch Teppiche und andere Bodenbeläge; die Überrollbarkeit sei in Österreich und der Schweiz normativ eingeführt. Christian Rager kündigte schon mal vorsorglich an: „Wenn die Schwellenfreiheit durch die Norm ausgehebelt werden soll, setzen wir uns zur Wehr.“ Kein Wunder: Alumat, dessen Geschäftsführerin seine Frau Claudia Rager-Frey ist, sieht sich seit 20 Jahren als technischen Vorreiter mit dem von Gründer Harry Frey entwickelten Wirkprinzip der Magnetdoppeldichtung. Institutsleiter Prof. Sieberath, ganz Wissenschaftler, beginnt die von GFF am 23. Juli in Rosenheim veranstaltete Diskussionsrunde mit einer Positionsbestimmung: „Barrierefreies Bauen ist eine Planungsaufgabe des Architekten.“ Dieser habe sicherzustellen, dass Türschwellen barrierefrei ohne Schwelle ausgeführt werden. „Daraus hat sich der Begriff ,Nullschwelle’ etabliert, den es normativ nicht gibt“, sagt er. Solche Türen würden sich im Neubau gut planen und umsetzen lassen: „Hier gibt es selten notwendige Ausnahmen, bei Einbruchhemmung gemäß Klasse RC3 und hohen Anforderungen an Schall- oder Brandschutz.“ Daher sollte „eine niveaugleiche Schwelle im Neubau ohne Wenn und Aber realisiert werden“.

Heiße Diskussion

Daran will der ift-Chef nicht rütteln. Vielmehr biete das Kriterium der Überrollbarkeit Vorteile für die Sanierung und Bewertung neuer Produkte. Recherchen für die GFF -Praxistage am 8. und 9. November in Karlsruhe-Ettlingen (dort spielt das Thema in der Podiumsdiskussion und im Eröffnungsvortrag von Sandra Heinrichsberger eine Rolle) hatten ergeben, dass in diesem Sektor tätige Bauunternehmen mit Unverständnis auf das vermeintliche Zurückdrehen der Anforderungen seitens der Fensterbranche reagieren. Dazu passt, was während der vor allem hinsichtlich der Temperaturen heißen Runde im Juli Ferdinand Schusser sagt, der Alumat in Österreich und der Schweiz vertritt und seitenweise erfolgreiche Referenzbelege vorlegt. „Mit dem Thema der Überrollbarkeit machen wir ein neues Fass auf, das zusätzlich für Verwirrung sorgt.“ Alumat trete seit Langem den Beweis an, dass die Lösung nicht nur für alle Nutzergruppen am komfortabelsten sei, sondern sämtliche Prüfungen – von der Schlagregendichtigkeit (laut Rager-Frey wird, egal mit welchem Profilhersteller, mindestens die Klasse 9A erreicht) über Blower Door bis hin zum Einbruchschutz – bestanden habe. „Dieses Produkt“, lässt sich Helmut Hilzinger in Bezug auf die Magnetdoppeldichtung zitieren, „wird mehr als dringend gebraucht und Hilzinger als innovative und große Fenstermarke ist ganz vorn mit dabei“ – diese Aussage liegt GFF schriftlich vor und deckt sich mit Empfehlungen, die Kornelia Grundmann, selbst Rollstuhlnutzerin, mit ihrer Agentur gabana (ganzheitlich, barrierefrei, nachhaltig) ausspricht. Sie berät Bauvorhaben wie Center Parcs Allgäu in Sachen Barrierefreiheit. Auch ihre Projektliste ist beeindruckend, es finden sich u.a. die Tourismuschefin von Kitzbühel und eine sehr zufriedene Partnerin der Deutschen Bahn. Nicht selten komme es vor, dass weder Architekten noch Bauausführende über das notwendige Know-how verfügen, um Barrierefreiheit richtig umzusetzen und dieses Versprechen einzulösen. Die Leidtragenden seien die späteren Bewohner, vor allem jene, die auf Barrierefreiheit angewiesen seien. Ebenso kritisch kommentiert sie, wenn Betriebe – um Diskussionen zu vermeiden – von sich aus eine Zwei Zentimeter-Schwelle einbauen, weil sie damit die meiste Erfahrung hätten: „Es geht auch um Empathie“, sagt sie. Anderenfalls seien Nutzer der Wohneinheiten vom Terrassengenuss dauerhaft ausgesperrt. Am überzeugendsten ist das wirtschaftliche Argument in der Hotellerie: „Bei den Hotels, die wir beraten haben, sind die barrierefreien Zimmer die am besten gebuchten. Die sind am komfortabelsten, das hat nichts mit Rollstuhl oder Rollator zu tun.“ Die Unüberwindbarkeit rechteckiger Zwei Zentimeter-Schwellen bestätigen die ift-Forschung und Messungen zur Überrollbarkeit. Knut Junge verweist auf Selbstversuche in Seminaren: „Erfahren Teilnehmer oder Messebesucher erst selbst, dass eine Zwei Zentimeter-Schwelle unüberwindbar ist, braucht es keine Normen mehr. Die haben es für das ganze Leben verstanden.“

Wer zahlt, schafft an

Viele Wohnungskäufer oder Häuslbauer achten schon 30 Jahre und mehr vor dem Ende ihres Erwerbslebens auf eine entsprechende Beschaffenheit der Immobilie. Zum einen möchten viele Menschen möglichst lange im eigenen Zuhause leben. Aber auch bei der sofortigen Nutzung steht der Wunsch nach Komfort im Mittelpunkt, dessen Erfüllung Schwellen und Barrieren erschweren. Bewegungsfreiheit wäre in diesem Kontext vielleicht eine positiver besetzte Alternative zur Barrierefreiheit im Wording.

Schreinermeister Hubert Luidl nutzt das Thema für die Differenzierung im Wettbewerb und sieht Potenzial: „Barrierefreiheit wird eine größere Bedeutung erlangen, weil die Nachfrage infolge der Bevölkerungsentwicklung ansteigt. Nur müssen die technischen Lösungen auf der Baustelle funktionieren.“ Ihm selbst, berichtet der Chef eines Zehn Mann-Betriebs, sei es schon passiert, dass er auf die in seiner Schreinerei hochgeschätzte Alumat-Schwelle zurückgreifen wollte, aber sich nach der unsauberen Verlegung des Estrichs und des Bodenbelags die Türen nicht mehr richtig öffnen ließen. Ähnlich äußert sich Martin Werner, die von ihm geleitete Fensterbau-Abteilung im oberbayerischen Eiselfing setzt 16 Millionen Euro um: „Mir nützen keine barrierefreien Ausschreibungen, die wir aufgrund der Situation, die wir nach den Vorgewerken auf der Baustelle vorfinden, nicht erfüllen können. Wir melden dann Bedenken an, aber fehlerhafte Ausführungen werden trotzdem selten wieder zurückgebaut.“

Zurück marsch, marsch

Einen solchen Fall kennt Christian Rager: „Als der Bauherr erfuhr, dass die von ihm gewünschte Ausführung mit unserer Schwelle machbar gewesen wäre, ließ er den Planer alles wieder rausreißen.“ Ein expliziter Befürworter des ift-Forschungsprojekts ist Martin Werner, der kritisiert, dass diverse Produkte ohne konstruktiven Schutz dauerhaft nicht die zugesagte Performance garantierten: „Deshalb stellen wir vorher alles auf unsere eigenen Prüfstände.“ Er unterstützt das Kriterium der Überrollbarkeit, auf dessen Grundlage Systemhäuser Lösungen zum Kundenvorteil weiterentwickeln könnten; ihm als Anbieter ermögliche es, eine Alternative ins Spiel zu bringen und so zu verhindern, dass der Kunde nur die Wahl hat zwischen der pro Element in Herstellung und Montage gleich mehrere Hundert Euro teureren Alumat-Schwelle und einer für Barrierefreiheits-Ansprüche inakzeptablen Zwei Zentimeter-Schwelle. Letztere, das ist ein Ergebnis der Runde, dürfte innert der nächsten Jahre ausgedient haben: „Da müssen einige nachziehen“, gibt sich Rager-Frey selbstbewusst, „das ist gut für uns. Der Markt wird dadurch größer.“ Dazu gilt es, Verarbeiter mit praktikablen Qualifizierungsangeboten zu unterstützen – auf veränderungsunwillige Handwerker zu schimpfen, hilft niemand und ist in der Pauschalaussage verfehlt.

Auch wenn es ein Stück weit bezeichnend ist, dass Alumat-Vertriebspartner Schusser+Schmid, der stolz darauf ist, sich im „kritischen Markt Schweiz“ mit dem Made in Kaufbeuren-Produkt von Alumat gut etabliert zu haben, fordert: „Die Architekten müssen ihr Augenmerk auch auf die Bauüberwachung richten.“ Sonst seien entsprechende Ausschreibungen Makulatur. Kornelia Grundmann ist Diplom-Ingenieurin und selbst Architektin. Sie erinnert sich an eine ihrer ersten Architekturvorlesungen an der Uni: „Der Professor sagte uns, zwei Dinge dürften wir nie vergessen. Wasser weg vom Bau – jede Art von Schwelle ist zu vermeiden.“ So gesehen, ist es immer wieder erstaunlich, wie zeitlos die meisten Wahrheiten eigentlich wären. Zu denen gehört, dass jede Sonderlösung – eine solche ist die Nahenullschwelle – in der Fensterproduktion dazu führt, dass ein Element aus dem Standardworkflow herausgenommen und entsprechend bearbeitet wird. Dafür müssen Betriebe sich aufstellen, doch das kann sich – siehe Marktchancen und Demografie – durchaus lohnen, wenn der möglichst vollständige Verzicht auf Schwellen endlich Allgemeingut ist/wird.

Eine intensive Information von Planern, Herstellern und Monteuren ist zentrale Aufgabe des ift, sagt Prof. Sieberath. „Dafür haben wir die ift-Einsatzempfehlung erstellt, in der wir auf die vielfältigen Aspekte der Barrierefreiheit und die Besonderheiten einzelner Nutzergruppen hinweisen. Wir setzen uns weiter dafür ein, dass im Neubau eine niveaugleiche Schwelle Vorrang hat.“ Sandra Heinrichsberger, die am Projekt beteiligt war, betonte, dass objektive und praxisgerechte Kennwerte für barrierefreie Konstruktionen die Produktentwicklung und nutzergerechte Planung förderten. Die Master of Science-Absolventin wird auf den GFF -Praxistagen im Eröffnungsvortrag das Forschungsprojekt und die Ergebnisse vorstellen sowie voraussichtlich Rückmeldungen wie jene in der Diskussion aufgreifen, um für Teilnehmer den Umgang mit der Thematik zu vereinfachen (In eigener Sache: GFF hat die Referentin als Sandra Haut angekündigt, die Namensänderung erfolgte zwischenzeitlich.)

Hilft die RAL-Montage?

Knut Junge, der ebenfalls involviert war, betreut verantwortlich die technische Auskunft des Instituts und weiß, dass Türschwellen stets mit weiteren Anforderungen wie Bedienkräften, Dichtigkeit, Schallschutz und Einbruchhemmung korrelieren müssen. Den Vorschlag von Christian Rager, für die Barrierefreiheit eine Art Punkte-System einzuführen, anhand dessen ganze Bauelemente in den verschiedenen Disziplinen zu bewerten wären, hatte das ift im Nachgang zum Forschungsprojekt auch schon in Erwägung gezogen.

Gleichwohl wird es spannend sein, zu beobachten, wie es mit annähernd niveaugleichen Höhenübergängen im Fenstermarkt weitergeht. Obwohl Lösungen da sind, deren Funktionieren bei richtiger Planung und Ausführung vielerlei Referenzen belegen, ist eine solche Ausführung in der heutigen Branchenrealität vielfach noch Stiefkind. Wie gesagt, in der Verantwortung steht nicht nur der Regelsetzer, sondern ebenso der Anbieter, der dafür trommeln und qualifizieren muss, wenn er seine Marktvorteile wahrnehmen will. Auch die Anregung von Prof. Sieberath, das Thema in der neuen Fassung des RAL-Montageleitfadens stärker zu behandeln, soll die praktische Nutzung weiterbringen. Eines ist sicher: Der Bedarf ist da und er wird weiter zunehmen.