Einsatz von Sicherheitsglas in der Schweiz Fallbeispiele zur Umsetzung der SIGAB-Richtlinie 002

Die SIGAB-Richtlinie 002 „Sicherheit mit Glas – Anforderungen an Glasbauteile“ sorgt in der Schweiz für Diskussionen und Unsicherheiten – wie die 0,8-Meter-Forderung in der künftigenDIN 18008. Die drängendsten Fragen beantworten die SIGAB-Experten an vier Fallbeispielen.

Unsere Aufnahme zeigt eine bodentiefe Verglasung in einem Wohnhaus im Schweizerischen Uster. Gemäß der SIGAB-Richtlinie 002 ist diese an den zugänglichen Seiten mit Sicherheitsglas auszuführen. - © SIGAB

Immer wieder ereignen sich Personenunfälle mit schweren Schnittwunden, welche durch grob brechendes Glas – z.B. Float-, Guss- oder Drahtglas – verursacht werden. Die im Jahr 2017 neu überarbeitete SIGAB-Richtlinie 002 (SR 002) bietet einen klaren Rahmen für mehr Sicherheit im Umgang mit Glas am Bau und löste zum 1. Januar 2018 die ältere SIGAB-Dokumentation „Sicherheit mit Glas“ (1999) ab. Die Einführung der überarbeiteten Richtlinie sorgte nach Angaben des Schweizerischen Instituts für Glas am Bau (SIGAB) für einigen Wirbel und teilweise auch für Unsicherheit in der Baubranche. Die Glasexperten des Instituts müssen demnach mehrmals täglich Anfragen beantworten. Zu einigen Fällen nehmen die Fachleute im Folgenden, anonymisiert, in GFF Stellung.

Ärger über Mehrkosten

Fall 1: Jean D., Familienvater und privater Bauherr eines Einfamilienhauses in der Romandie, möchte wissen, ob die SR 002 rechtlich verbindlich sei und ob er dem kürzlich erhaltenen Hinweis seines Fensterbauers folgen und Sicherheitsgläser einbauen müsse; und wenn ja, wer die Mehrkosten von 8.000 Schweizer Franken tragen müsse. Die Baubewilligung erging im Jahr 2017. Die Wohngemeinde argumentiert, dass die SR 002 erst seit dem 1. Januar 2018 gelte und davor rechtlich keine Sicherheitsgläser gefordert gewesen seien. Es sei somit alles korrekt abgelaufen und er als Bauherr müsse die Zusatzkosten selbst tragen. Jean D. fühlt sich schlecht beraten und hilflos. Als Vater von drei kleinen Kindern möchte er für sein Einfamilienhaus den bestmöglichen Sicherheitsstandard, ärgert sich aber über die unerwarteten Mehrkosten und darüber, dass er von den Fachleuten nicht von Anfang an umfassend über Sicherheitsgläser und die geltenden gesetzlichen Grundlagen und Empfehlungen informiert worden ist.

Die Antwort des SIGAB: Die SR 002 ist keine Norm im Sinne von Art. 2, Ziff. 12, des Bauproduktegesetzes (BauPG), wie es die Normen des SIA sind. Es handelt sich aber um eine technische Spezifikation im Sinne von Art. 2, Ziff. 10, BauPG, die den Stand der Technik und großenteils auch der anerkannten Regeln der Baukunde widerspiegelt. Die SR 002 ist eine Richtlinie mit empfehlendem Charakter. Es komme jedoch vor, dass einzelne Gemeinden die Sicherheitsempfehlungen des SIGAB oder der Beratungsstelle für Unfallverhütung (bfu) als Auflagen in die Baubewilligungen aufnehmen, womit die in der SR 002 aufgeführten technischen Spezifikationen umzusetzen sind. Ebenso komme es vor, dass die Fachpublikationen von SIGAB und bfu bei Gutachten oder Gerichtsfällen als Entscheidungsgrundlagen herangezogen werden.

Langjährige Anforderungen

Die Sicherheitsanforderungen in der SR 002 sind laut dem SIGAB nicht neu, sondern bestehen seit fast 20 Jahren in der Branche und basieren auf gesetzlichen sowie auf normativen Grundlagen wie z.B. SIA 329, 331, 343. Die SR 002 präzisiert bestehende Vorschriften, z.B. durch die Ein-Meter-Regel. Der Grundsatz jedoch, dass verletzungshemmende Gläser einzubauen sind, wo eine Verletzungsgefahr besteht, sei weder neu, noch vom SIGAB aufgestellt worden. Mit Blick auf die Planung, Bewilligung und Ausführung von Bauvorhaben spiele der Stichtag der überarbeiteten Sicherheitsrichtlinie deshalb eine untergeordnete Rolle. Folglich gebe es keine Übergangsphase. In Österreich und Italien wird die Verwendung von Sicherheitsglas normativ oder sogar auf Gesetzesebene verlangt. In Deutschland ist man – wie mehrfach berichtet – ebenfalls dabei, dies in der nationalen Bemessungsnorm für Glas (DIN 18008) zu regeln.

Fachbetrieb mit Sorgfaltspflicht

Gut informiert zu sein über den aktuellen Stand der Technik und die anerkannten Regeln der Baukunde, gehört laut dem SIGAB zur Sorgfaltspflicht eines Fachbetriebs. Dazu zählt auch die Hinweispflicht gegenüber der Kundschaft. Der Fensterbauer von Jean D. ist dieser Hinweispflicht nachgekommen, wenn auch eher spät. Schlicht falsch sei hingegen der Standpunkt der Wohngemeinde von Jean D. Ein Bauherr darf davon ausgehen, dass Architekten, Planerinnen, Handwerker und Behörden über die aktuell geltenden Anforderungen und Empfehlungen in der Branche informiert sind.

Kunde will lieber Floatglas

Fall 2: Eine Mitarbeiterin einer Glaserei im Mittelland erkundigt sich beim SIGAB, inwieweit die Firma haftbar ist, wenn das Unternehmen einem Kunden für eine Glastüre Float- statt Sicherheitsglas liefert. Der Kunde sei vorab durch die Mitarbeiter der Glaserei auf die Sicherheitsanforderungen gemäß der SR 002 für eine solche Tür hingewiesen worden. Der Kunde wünscht trotzdem das kostengünstigere Floatglas. Die Tür und das Glas baut er selbst ein. Der Glasproduzent ist nun besorgt, ob er überhaupt liefern soll bzw. darf.

Haftbarkeit und Verantwortung

Grundsätzlich gilt dem SIGAB zufolge, dass die Entscheidung, ob das geforderte und meistens teurere Sicherheitsglas Verwendung findet, allein bei der Bauherrschaft liegt – außer es bestehen Auflagen vonseiten der Behörden. Bei einem bewussten Verzicht auf den Einbau von Sicherheitsglas empfehle es sich, diese Entscheidung bzw. Absprache zwischen den Parteien in den Bauwerksakten oder in einer Nutzungsvereinbarung zu dokumentieren.

Der Bauherr oder dessen Vertretung haben gemäß der Norm SIA 118 die Schutzanforderungen zu definieren und tragen auch die Verantwortung dafür, dass Glasaufbauten entsprechend den verlangten Anforderungen und Montagemöglichkeiten richtig ausgeschrieben werden. Weiterführende Normen dazu sind SIA 118/329, SIA 118/331 und SIA 118/343. In der Regel sind nach SIGAB-Angaben der Planer für eine korrekte Ausschreibung und der Werkvertragsnehmer für die Wahrnehmung der Hinweispflicht verantwortlich. Ein Isolierglas- bzw. Glaslieferant könne nur verantwortlich gemacht werden, wenn er mit der Planung von Glasaufbauten beauftragt wurde.

Ein-Meter-Regel

Die von der bfu und dem SIGAB schon länger empfohlene Handhabung von Sicherheitsglas findet sich in der SR 002 in der sog. Ein-Meter-Regel wieder. Der gedankliche Meterriss zur Anwendung von Sicherheitsglas ist demnach eine markante Vereinfachung für alle am Bau Beteiligten. In der SR 002 heißt es dazu: Für Verglasungen mit Glas unterhalb der Mindesthöhe von einem Meter ab begehbarer Fläche ist aus Gründen des Personenschutzes angriffsseitig Sicherheitsglas anzuordnen. Je nach Zugänglichkeit ist dies beidseitig sicherzustellen (z.B. EG-, Balkon- oder Terrassenverglasungen).

Wie ist ein Sims zu bewerten?

Fall 3: Eine Architektin aus der Innerschweiz stellte die Fragen, von welcher Stelle an genau dieser Meter für die Ein-Meter-Regel gemessen werde; und ob die Ein-Meter-Regel auch gelte, wenn ein breiter Sims eingeplant sei.

Die Antwort des SIGAB: Bei der Ein-Meter-Regel für den Einsatz von Sicherheitsglas zählt das Glaslicht bzw. die Oberkante der Glasfalzleiste. Die Einbausituation mit breitem Sims ist in der Richtlinie nicht geregelt – hier sind die beteiligten Personen gefordert, je nach Nutzung einen Entscheid zu treffen.

Nicht zugängliche Verglasungen

Fall 4: Ein Bauverwalter einer Nordwestschweizer Gemeinde kennt sich aus mit Bauregelungen. Beim Fensterersatz seines Privathauses ist er sich jedoch mit dem beauftragten Fensterbauer in einigen Punkten nicht einig und wendet sich deshalb ans SIGAB. Die geplanten raumhohen Fenster sind im Treppenhaus nicht alle zugänglich, da sie sich teilweise im Luftraum befinden oder ein Geländer vorgesehen ist. Er fragt sich nun, ob in diesen Situationen ebenfalls Sicherheitsgläser nötig sind.

Die Antwort des SIGAB: Theoretisch sei es richtig, dass sich in nicht zugänglichen Einbausituationen das Sicherheitsglas einsparen lasse. In der Praxis zeige sich jedoch, dass dies nicht sinnvoll ist. Durch unterschiedliche Isolierglasaufbauten in derselben Fassade oder Stockwerksebene könnten Farbdifferenzen sichtbar werden.

Handwerker als Planer

Werden Glasprodukte bei bestehenden Bauteilen ersetzt, hat das neue Produkt laut dem SIGAB dem aktuellen Stand der Technik und den anerkannten Regeln der Baukunde zu entsprechen. Zudem sei die bestehende Konstruktion inklusive der Befestigung zu überprüfen und, falls erforderlich, anzupassen. Bei Baudenkmälern sind Ausnahmen nach einer sorgfältigen Risikoabwägung denkbar. Gerade bei Ersatzverglasungen ist meistens der Handwerker für die Planung zuständig. Als Planende von Fensterersatz-Projekten müssen somit auch die Metall- und Fensterbauer alle gesetzlichen und empfohlenen Planungsgrundlagen sowie die spezifischen Feinheiten des Baustoffs Glas kennen. Die Komplexität dieses umfangreichen, zusätzlichen Fachwissens wird nach SIGAB-Angaben jedoch oft unterschätzt und kaum wahrgenommen. In vielen Fällen empfehle es sich, von Anfang an auch einen vertrauenswürdigen Glasbetrieb oder Isolierglashersteller einzubeziehen.

Mehrwert rechtfertigt Preis

Es ist dem SIGAB zufolge richtig, dass Sicherheitsgläser kostspieliger sind als Floatglas. Sicherheitsglas biete jedoch nicht nur den bestmöglichen Personen- und Verletzungsschutz, sondern je nach Glasaufbau auch einen besseren Widerstand gegen Ballwurf, Einbruch oder Schall. Diese zusätzlichen Mehrwerte von Sicherheitsglas seien ihren Preis wert. Der Einbau von Sicherheitsgläsern sollte demnach ab sofort bereits in der Planungs- und Projektierungsphase berücksichtigt, besprochen und bei Bedarf entsprechend budgetiert werden.

Chance wahrnehmen

Das Fazit des SIGAB lautet: Viele Situationen sind durch die SR 002 nun klar geregelt. Die Richtlinie biete den Betrieben und der Kundschaft mehr Rechtssicherheit in Bezug auf das Bauproduktegesetz. Zudem liege das Bewusstsein für mehr Sicherheit absolut im Trend. Sicherheitsglas biete vor allem Kindern und sturzgefährdeten Seniorinnen und Senioren mehr Sicherheit. Unternehmer sollten die Chance nutzen und ihrer Kundschaft diesen Mehrwert an Sicherheit und Fachkompetenz anbieten.